Im Verzicht wird die Chance gesehen,
verlorene, aber zutiefst menschliche Situationen zurück zu gewinnen.FAZ 30.10.1985
So habe ich Inge Andler-Laurenz kennen gelernt, auf der Suche nach Momenten bedrohten oder geglückten Lebens und in der Umsetzung solcher Momente in ihren stringent verdichteten Skulpturen. Den Gefahren grenzenloser Freiheit in Zeiten eines globalisierenden Individualismus nimmt Inge Andler-Laurenz sich die Freiheit zur skulpturalen Selbstbeschränkung. Momentaufnahmen sind ihre Skulpturen, die neben dem Verzicht auf alles Gefällige wesentliche menschliche Situationen festhalten und so für die Betrachter einen Dauerzustand beschreiben.
Der Moment des Weglaufens wird zum Thema der Flucht. Scheinbar läuft das Kind der Mutter davon. Da hat die Mutter in ihrer Verzweiflung noch die sichere Hand für das Kind, die sie ihm auf die Schulter und den Kopf legt, wie um Letztes mit auf den Weg zu geben. Das Kind hat in der Haltung des Oberkörpers die Rückwendung zur Mutter, aber auch den Blick nach vorne, die Arme frei – es geht seinen Weg in diese ungewisse Zukunft. Alle Ängste dieser Welt, die auf das Kind lauern, aber auch alle Zuversicht, die Eltern Kindern geben können, sind in dieser preisgekrönten Skulptur versammelt.
Beim Brunnen in Völklingen hat sich die Mutter mit dem Kind geradegesetzt, die Beine gekreuzt zur Balance und der Moment wird zum Thema der wohligen Ruhe, des Geborgenseins, zum Thema Mutter und Kind im besten Sinne des Wortes.
In einer anderen Mutter – Kind Momentaufnahme die Mutter gefasst, streng, hält das Kind stehend auf den Knien nach vorne, dem Betrachter entgegen. Das Kind selbst hebt die Hände, um sich scheinbar jemand hinzugeben. Der Moment wird zum Thema der sich selbst und gar ihr Kind verschenkenden Mutter, zur Madonna (Überherrn).
Der Moment des Wegdrückens von Eisenstangen, von Widerlichem, wird für den Mann im Eisen zum Weg, für uns zum Thema des Sich Befreiens aus den Zwängen, ins Freie, den Blick nach vorne.
Der Moment des Streites der beiden Kämpfer wird schon in der Silhouette zu einem scheinbar unauflöslichen Miteinander. Jede Bewegung der Trennung ist gleichzeitig eine Ineinanderführung. Die beiden kommen nicht mehr voneinander los. Schont ahnt man, wie aus den abstoßenden Armbewegungen wieder Umarmungen werden. Das ist kein Kampf um des Kampfes willen.
Es sind Momente, die immer auch eine Geschichte erzählen. Die Große Schreitende geht mit ausgestreckten Armen auf die am Boden Kauernde zu. Das Potential des sozialen Miteinander wird hier deutlich gemacht und eingefordert.
Signalartig das Treffen der drei Bergleute Dreiergruppe auf der Halde der Grube Ensdorf. Drei rote, 2 Meter große Kumpels stehen da und geben Lebenszeichen auf der sterbenden Halde. Drei – Rot – Leben.
Es ist immer wieder die knappe, auf den Punkt gebrachte Formulierung eines Themas, ein Zurücknehmen in der Ausformung bis zur Grenze des Abstrakten, was die Werke von Inge Andler-Laurenz offen lässt für die Fähigkeit des Betrachters, daran für seine eigene Assoziation anzuknüpfen. Jedes ihrer Werke ist der Anfang einer neuen Geschichte.
Als Architekt habe ich sie erlebt in der Planungs- und Ausführungsphase der Eingangsportale für die Kirche St. Monika in Überherrn/Saar. In diesen in Grauguss ausgeführten Türblättern – wo anders als auf der Völklingerhütte – ist das von der Künstlerin oft behandelte Thema der Linien und des Netzes weit ausgebreitet. In Netze wird gesammelt, mit ihnen wird gefangen, in ihnen kann man sich verstricken. In diesen Portalen gibt Frau Andler-Laurenz ein gültiges Bild menschlicher Situationen, unsere Pluralität, unsere Individualität, unsere Isoliertheit und unser Chaos. Da gibt es keine flächendeckenden Antworten mehr. Da entsteht Zusammenhang und Zusammenhalt nur noch an Knotenpunkten dort, wo Menschen sich miteinander verbinden, sich annehmen in ihrer Zerrissenheit, um gemeinsam tragfähig zu werden. In den Überherner Türen finden wir uns alle. Suchende, Gestrandete, Eingefangene, Geborgene.
Die Völklinger Hütte. Ihre Völklinger Hütte. Da liegt eine Quelle ihrer Arbeit, in der Ursprünglichkeit des Materials Eisen und Stahl, im Widerstand dieses Materials gegen den Formwillen der Künstlerin, im Reiz des Handwerklichen. „Ich liebe Eisen und Stahl“, sagt sie, „aber lange war mir die Hütte verschlossen“. Dann der Weg durch die Lehrwerkstatt, eine Schweißerlehre schließt sich an und das Ganze mündet in den großen Schweißplastiken, z. B. im Saarländischen Landtagsgebäude oder im Foyer der Saarstahlverwaltung in Völklingen. Sie schafft gerade mit diesen Großskulpturen ein Stück Heimat und ermöglicht in zeitgenössischer Form, dass Heimat auch heute passieren kann.
Kraftvolle, klare Antworten, festgehalten als Momente, als Anfang einer je neuen Geschichte. Diese Momentaufnahmen von Inge Andler- Laurenz sind nicht versteinert oder gelähmt wie Photographien. Sie sind wahr, denn in Wirklichkeit steht die Zeit nicht still.
Alois Peitz
Im Mai 2007